ARMUT IST...
Tod dem Schwarzfahrer!
------------------

Schwarzfahren stellt in der Schweiz einen Straftatbestand dar. Das heisst, Schwarzfahrer werden - egal, aus welchen Gründen sie schwarzgefahren sind - von allem Anfang an kriminalisiert. Dabei trifft es aber meistens die Falschen. Es ist daher Zeit, das Thema einmal genauer zu betrachten.
Schwarzfahren ist aus Sicht von Karin Blättler, Präsidentin Pro Bahn, «zwingend zu bestrafen», wie sie sich gegenüber 20Minuten in einer Reportage zum Thema Schwarzfahren ausgedrückt hat. Den Schaden hätten die zahlenden ÖV-Kunden zu berappen. Nun, liebe Frau Blättler, ich lade Sie dazu ein, einmal eine Woche lang mit mir zu tauschen, damit sie sehen, was es heisst, am/unter dem Existenzminimum zu leben. Wir würden dann nämlich ein paar Szenarien durchspielen. Eines davon wäre: ich schicke Sie von A (Ihr fiktiver Wohnort in Seebach) nach B (B ist in Wollishofen und dort, wo ihre kranke Mutter wohnt und sie dringend um Hilfe gebeten hat), aber gebe Ihnen nicht genug Geld für's ÖV-Ticket (respektive es gibt dann nichts für hinter die Kiemen...). Dann schauen wir mal, ob nicht auch Sie selber schwarzfahren werden, weil es die Umstände schlichtweg erfordern! Es geht immerhin um Ihre Mutter.
Im selben Artikel steht auch, dass "um strategisches Schwarzfahren bedeutend schwieriger zu machen, planen die Schweizer Verkehrsbetriebe ab April 2019 ein einheitliches Schwarzfahrer-Register. Die lokalen Bahnbetriebe sollen so feststellen können, ob ein Schwarzfahrer von einem anderen Verkehrsunternehmen vorbelastet ist. Ist dies der Fall, können Zuschläge dementsprechend erhöht werden. Wer das erste Mal erwischt wird, soll 100 Franken zahlen. Beim zweiten Mal 140 und beim dritten Mal 170 Franken. Notorische Wiederholungstäter sollen es so in Zukunft schwieriger haben."
Das heisst, neben dem Zuschlag, der jedesmal höher ausfällt, wird der Schwarzfahrer angezeigt UND in ein nationales Schwarzfahrer-Register - eine typische "Schwarze Liste" - eingetragen. Somit ist man doppelt bestraft, katalogisiert und abgestempelt als "Straftäter" und "Erschleicher von Beförderungsdienstleistungen". Ich möchte dazu einfach einmal Folgendes sagen: wir Schweizer rühmen uns doch ganz gerne, wie differenziert unser Rechtssystem, wie toll unser Sozialsystem und wie gerecht überhaupt alles sei in unserem Land. Das mag in vielerlei Hinsicht zutreffen, aber wenn es um Schwarzfahren geht, dann ist es leider gerade umgekehrt: es spielt nämlich keine Rolle, warum jemand schwarz fährt. Es wird null-komma-null differenziert. Ich selber wurde schon mehrfach ohne Billet kontrolliert und habe von der ZVV/VBZ Bussen und Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft erhalten. Also bin ich in den Augen der VBZ/ZVV, der Behörden und vieler Leute ein amoralisches strategisch schwarzfahrendes Subjekt, weil ich den zahlenden Fahrgast "prelle", indem ich kein Ticket löse? Bin ich ein asoziales Arschloch, das lieber andere für mich bezahlen lässt? Denken die Leute wirklich, es mache mir Spass, schwarz zu fahren? Dann soll ich also von A nach B zu Fuss gehen, auch wenn ich krank bin, es draussen in Strömen regnet und mein Zielort 6 Kilometer weit weg ist? Dann soll ich meine kranke Mutter, die 15km weit weg wohnt, NICHT besuchen können - obwohl sie meine Hilfe benötigt?
Man kann so argumentieren - und viele SchweizerInnen tun es leider -, aber es ist eine sehr vereinfachte, verkürzte Sichtweise. Lassen Sie mich Ihnen das erklären: Auch wenn es vermutlich wirklich notorische Schwarzfahrer gibt, die aus Prinzip, aus Renitenz oder Unaufmerksamkeit kein Ticket lösen, obwohl sie es sich leisten könnten, wird es sich bei den allermeisten SchwarzfahrerInnen um Menschen handeln, die in jenem Moment mobil sein müssen, aber nicht das Geld haben, ein ordentliches Ticket zu kaufen. Einfach nur so aus Spass fährt man nicht schwarz, glauben Sie mir das! Lässt des Schweizer's Gemüt diesen Gedankengang zu? Können Sie, liebe Leserin/lieber Leser, sich zum Beispiel vorstellen, wie es ist, wenn sie als Sozialhilfebezüger gegen Ende Monat, wenn ihnen das Geld langsam ausgeht, an der Tramhaltestelle den Fünfliber in ihrer hohlen Hand betrachten und sich fragen müssen: soll ich jetzt den Fünfliber opfern, um zum Termin beim Sozialamt oder zum Wohnungsbesichtigungstermin zu fahren, was CHF 4.40 kosten würde (Zone 110 Zürich, einfach), oder sollte ich ihn nicht besser behalten, um mir davon heute und morgen noch etwas zu essen kaufen zu können? Können Sie nachvollziehen, liebe Leserin und lieber Leser, wie sich das anfühlt? Können Sie sich auch ausmalen, was in einem vorgeht, wenn man dann zu hören kriegt: den arbeitsfaulen Sozialhilfeempfängern geht's eh zu gut, die kriegen ja alles vom Staat bezahlt? Das sind alles Lügen und Vorurteile, welche aber von einer breiten Bevölkerungsschicht vorbehaltlos als Argument ins Feld geführt werden, wenn es darum geht, gegen Minderbemittelte, Arme und Sozialhilfebezüger zu schiessen.
Denn es tut ja so gut, wenn man nach unten treten kann - weil nach oben, da getraut man sich halt nicht, nicht wahr?
Hier noch ein paar Leseräusserungen aus dem Artikel auf 20Minuten, die zeigen, wie wenig Empathie und Verständnis so manche Leute gegenüber ihren benachteiligten Mitmenschen an den Tag legen. Insgesamt hatte der Artikel auf 20Minuten 1233 (!) Kommentare, von denen leider (zu) viele empathielos alle Schwarzfahrer als amoralische Straftäter abstempeln, ohne auch nur einmal die Frage zu stellen, WARUM jemand schwarz fährt.

Lieber "Ein Leser", die Allgemeinheit zahlt keine Bussen, auch nicht das Sozialamt. Die Bussen muss der Betroffene immer selber bezahlen (was er meistens nicht kann oder mit dem Ergebnis, dass er deshalb wieder kein Geld fürs Tram hat und wieder schwarzfahren muss etc...ad infinitum). Gemeinnützige Arbeiten finde ich ok - aber es muss es gleich erniedrigende Arbeit sein?

Lieber Leopold, Betrug wäre es, wenn Schwarzfahren mit Betrugsabsicht gemacht würde, um entweder die ÖV arglistig schädigen und sich einen finanziellen Vorteil verschaffen zu wollen. Ist es Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass manche Schwarzfahrer einfach kein Geld haben, aber in gewissen Lebenslagen auf eine Grundmobilität angewiesen sind?

Liebe(r) MoLO, bei den Zigis haben Sie Recht, aber wer heute kein Smartphone hat, ist am Arsch. Sie können gerade als Sozialhilfeempfänger oder Arbeits- oder Wohnungssuchender nicht ohne Smartphone auskommen.

Nein, Frau Hiltebrand, ÖV-Zuschläge und Bussen sind NICHT im Grundbedarf der Sozialhilfe enthalten. Der Steuerzahler zahlt das also nicht (aber dafür die Heerscharen von Staatsanwälten und Richtern, die sich mit solchen Bagatellen beschäftigen müssen und nicht dazu kommen, wirkliche Betrüger und Verbrecher dingfest zu machen!)

Lieber Spielverderber: Ok, CHF 148.- tönt nicht wie die Welt. Wenn Sie aber von Sozialhilfe oder sonstwie gerade am oder unter dem Existenzminimum leben (müssen), dann sind CHF 148.- schlichtweg NICHT erschwinglich. Viele Menschen sind de facto zum Schwarzfahren gezwungen, um ihren basalen Funktionen als Mitglied der Gesellschaft (oh ja, gewisse Erwartungen werden nach wie vor gestellt!) nachkommen zu können.